Grenzgänge / borderartions - Ein Ausstellungsprojekt von Martin Gerner im Rahmen der dreiteiligen Wechselausstellung „Verlorene Räume – Chroniken der Besatzung“ in der Zeit vom 27.09. bis 09.11.2025.
„Ungefähr hundert Schritte weiter holen wir ein älteres Ehepaar ein, ungefähr
60 bis 65 Jahre alt, und ich werde Zeuge eines unfassbaren Ereignisses: Plötzlich
fallen der kräftig gebauten Frau die Taschen aus der Hand, sie fällt vor meinen
Füßen hin, reißt ihre Hände in die Luft und – stirbt. Ich kann meinen Augen nicht
trauen. Geschieht das hier wirklich?
„Mütterchen!“ Ich rüttle an ihr herum. „Mütterchen!“ …
„Was für ein Leben wir geführt haben, und wie elend wir jetzt verenden...“, sind
seine letzten, mit Mühe hervorgebrachten Worte.“
aus: Der Pass der Flüchtlinge', Guram Odischaria
Für diese Ausstellung hole ich etwas zurück in unsere Gegenwart: eine Auseinandersetzung mit Guram Odischaria, Autor und Überlebender des Kriegs in Abchasien: er hat den Pass der Flüchtlinge überwunden, über den Tausende Georgier im Oktober 1993 fliehen mussten und der vielen das Leben gekostet hat. Als ich mit Guram Odischaria über die Vertreibung und den Verlust von Heimat spreche, 2017, hält Rußland bereits auch Teile der Ukraine besetzt:
„ (...) - Besteht die Aussicht, dass Sie ihr verlorenes Haus einmal zurückzubekommen?
Mein Haus existiert immer noch. Meine abchasischen Freunde haben mir mehrmals
angeboten: Wenn du es sehen willst, komm zurück! Wir führen dich hin! Aber ich
möchte mein altes Haus nicht sehen. Es wohnt jemand anderes darin jetzt. Der Krieg
hat seine eigenen Gesetze. Es gehört jetzt jemand anderem. Aber das Vermögen ist
mir nicht so wichtig. Man kann ein Haus ersetzen, sich ein neues suchen. Wichtiger
ist mir, dass Abchasien und Georgien wieder zusammenwachsen.
Die materiellen Verluste sind für mich nicht so wichtig.
- Sie meinen ernsthaft Abchasien kann wieder zu Georgien kommen?
Die Frage treibt mich um, immerfort. Ich habe ein Theaterstück geschrieben, das bei
uns recht erfolgreich war. Darin stelle ich die Frage: was passiert, wenn wir eines
Tages vor einer Wiedervereinigung beider Teile stehen? Wir haben diesen
27. September 1993. Das war der Tag, an dem wir (Georgier) Sochumi verloren
haben. Für die Abchasen ist es der Tag des Sieges über Georgien. Aber was machen
wir jetzt mit diesem Datum? Sollen die Einen nur feiern an dem Tag und die Anderen
nur trauern?
Wir haben gleiche und zugleich unterschiedliche Geschichten. Und die Geschichte ist
immer wieder voller Überraschungen. 300 Jahre lang zum Beispiel war Adscharien
für uns verloren. Heute gehört es wieder zu uns. Oder die Deutschen! Sie haben in
den 80er Jahren lange nicht vermutet, dass das geteilte Deutschland so rasch
zusammenwachsen würde. Dann beschleunigte sich alles, auch durch die Vorgänge
in Afghanistan. Ich gebe also die Hoffnung nicht auf.
Und weil sie nach der jungen Generation gefragt haben: Meine Generation hat ihre
Jugend im Krieg und Konflikt um Abchasien geopfert und verloren, obwohl uns
keine persönliche Schuld trifft. Wir haben einander getötet damals. Wenn wir uns das
klar machen, dass wir damals keine georgischen und abchasischen Kinder verloren
haben, sondern einfach nur Kinder, dann hilft das vielleicht, die Zukunft anzugehen.
Denn 1993, auf dem Pass der Flüchtlinge mussten wir fliehen, und kamen auf der
Flucht in eine Todeszone in den Bergen. Es war unendlich schwer. Viel haben die
Flucht über die Berge nicht überlebt damals. (…)“
Meine Fotografien aus der Ukraine, aufgenommen im dritten Kriegsjahr zwischen Kyiv, Jahidne und Tschernihiw, erkunden Heimat, Fremde und Dekolonisierung. In der Zusammenschau der Arbeiten mit Lana Blidaze und Dina Oganaova sind sie der Versuch eines Dialogs als Antwort vielfältige Ohnmacht dieser Tage. Eine Spielwiese zur Selbstermächtigung auch. In der Hoffnung, dass aus den Wunden Vögel werden können.
Martin Gerner, geb. 1966, Autor in den Medien Fotografie, Film und Wort. Hat zuletzt im März 2025 die Ukraine-Gruppenausstellung „Stille Invasionen. Quiet Invasions“ im Rahmen der Berliner Tage der OFF-Photographie kuratiert und multi-medial gestaltet. Autor der Fotobücher ‚Finding Afghanistan‘ und ‚Moria.System.Zeugen‘. Teilnahmen u.a. am Kolga-Fotofestival Tbilisi. Autor für Freelens, SPIEGEL, FAZ u.v.m. DOK-Leipzig Award Winner für Dokumentarfilm. Mediendozent in Krisen- und Konfliktgebieten. Gefördert von der Kunststiftung NRW für ‚Grenzgänge Georgien‘/Work in Progress und von der VG Bild Kunst/Kulturförderung.
www.martingerner.de, www.generation-kunduz.com, mar.gerner@gmail.com